Veränderungen

"Schreib doch was über das Klassentreffen."
"Ja! Schreiben konntest Du doch früher ganz gut."
Thorsten und Nicole scheinen von ihrer Idee begeistert zu sein. Zunächst will
ich erwidern, dass ich schon seit der Grundschule ganz gut schreiben kann,
aber schließlich grinse ich nur breit und sage: "Na klar."
Zum einen, weil ich, wie jeder Mensch, gern Schmeicheleien höre, zum
anderen, weil wir seit 5 Stunden hier sitzen und ich für meine Verhältnisse
ziemlich beduselt bin.

Wir, das heißt die ehemaligen Klassen 10 R und S der Friedrich von
Bodelschwingh Schulen und "hier" bedeutet im ‚al dente' in Bielefeld. Die
Versammlung begann um 19 Uhr am 15. September 2001.
(Soviel zu den historischen Daten.)

Zum 10. Mal ist die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne über die
Start-/Ziellinie gebraust seit wir unsere Abschlusszeugnisse in die Finger
bekamen. Somit war die Zeit reif für ein traditionelles Klassentreffen.
Nicole Schneider hatte es geschafft, ca. 30 Schüler von zum Teil weit
entfernten und exotischen Orten zusammenzubringen (wie Köln und Spanien).
Plus drei Lehrer.

Als ich über die Schwelle in das gut gefüllte Lokal trat und mich umblickte,
wollte ich schon die Bedienung fragen, ob das Treffen in einem hinteren
Raum sei. Aber dann erkannte ich Michael Davies und Daniel Venjakob -
also war ich doch richtig.

Die Leute hier hatten sich in den letzten 10 Jahren verändert. Der erste
Eindruck war schlichtes Erstaunen. Darüber, wie viele man jetzt noch
erkannte und wie viele einen selbst erkannten. (Obwohl: Eigentlich habe ich
mich ja gar nicht verändert.)
Dieses Wiedererkennen fiel dank der Generalprobe vom Oktober 1999, bei der
einige der jetzt Anwesenden teilnahmen, leichter, dennoch bleiben einige
Gesichter stärker im Gedächtnis haften als andere. Aus welchem Grund auch
immer...

Bei Michael Davies z. B. hat es sofort geklickt, auch bei Stefan Reschke oder
Silke Willer. Und Kai Uwe Prieg kann man nicht vergessen (seine
dröhnende Stimme ist dabei sehr hilfreich). Aber bis ich Christian Pink oder
Sandra Dedekind (bei ihr wusste ich zunächst nur noch, dass ihr Name
mit ‚S' beginnt und sie im Musikunterricht neben mir voller Hingabe den
Blankenstein-Husar gesungen hatte) brauchte es doch einige Zeit. Daniel
Jarre war fest überzeugt, in mir einen kleinen, dicken, Blonden aus der 10 S
wiederzuerkennen und kaum davon abzubringen. (Klein und dick? OK.
Aber blond und 10 S? Tut mir leid.)

Also stürzt man sich in die Menge direkt durch zur Theke, denn mit einem
Glas in der Hand zum Festhalten, fällt das Gespräch viel leichter. Es gab
Interessantes zu erzählen und zu hören. Wir decken mittlerweile ein breites
Berufsgebiet ab. Von Bank- und Büroangestellten über Mechaniker, mehrere
Kaufleute, einige Elektrofüchse verschiedener Bereiche bis zur
Zahnarzthelferin (Folterknecht), Schornsteinfeger und Soldat. (Und
Thorsten, dessen Berufsbezeichnung so außergewöhnlich ist, das ich sie
wieder vergessen habe.) Aber kein "klassischer" Handwerksberuf wie Maurer,
Klempner oder Bäcker. (Kein Wunder, dass die Innungen Radiowerbung machen.)
Mich würde interessieren, ob wir damit zu den typischen Realschulklassen
gehören oder außerhalb der Norm liegen.

Außerdem sind bereits 8 Vertreter der neuen Generation aus unser Klassen
hervorgegangen. Für den Fortbestand und die Berechtigung des Lehrerberufs
wird also gesorgt. (Irgendwie kommt man sich allmählich etwas alt vor.)
Übrigens ist Thorsten Ahrens mit der Tochter von Herrn Stippich
zusammen. (Tja, die Welt ist ein Dorf und tratschen macht Freude.)

Und nun zum Thema Lehrer. Herr Fromme, Frau Lang-Scheffer und Herr Stippich,
die am Treffen teilnahmen, schienen kaum gealtert zu sein. (Was zum Teil
daran liegen mag, dass dir als Teenager jeder, der älter ist als du,
vorkommt als stehe er kurz vor der Rente.)
Herr Stippich nutzte die Gelegenheit, um fleißg für die Bereitstellung von
Praktikumsplätzen zu werben unter dem Thema: "Ehemalige Schüler helfen
Schülern!". (Was sich auch jetzt noch anhört, wie spontan ausgedacht.)
Besonderen Eindruck erzielte er mit seinem dreiteiligen Anzug - so etwas
hat er früher nie getragen - und daß er im Gegensatz zu einigen von uns im
Besitz sämtlicher Haupthaare ist. Und Frau Lang-Scheffer erzählte, dass
die heutigen Klassen noch schlimmer sind, als wir damals. (Ich bin mir
nicht sicher, ob mich das beruhigen oder erschrecken sollte.)

Überhaupt herrschten später größtenteils die Anekdoten und "Weißt Du
noch?"-Geschichten vor. Auf einem Klassentreffen ist so etwas schließlich
Pflicht. Sandras ‚Hochzeit' in der 5., Kai Uwes besondere Interpretation
seines Namens (Prieg wie Krieg!), Danielas ‚Waschmaschinen-Not' auf der
Abschlussfahrt oder die Verteilung unserer Klassenräume über die Jahre, um
nur eine paar Beispiele zu nennen.

Aber etwas war schon zu beginn der Feier auffällig. Es mögen die Jahre
vergangen sein und doch fanden sehr schnell und wie von selbst die Gruppen
und Cliquen wieder zusammen, die schon früher zusammenhingen. Und noch
etwas wurde in den Gesprächen schnell klar. All die Veränderungen, die
wir aneinander bemerkten, waren rein äußerlich. Im Kern blieb sich jeder
gleich. Kai ist immer noch ein Spaßvogel; wenn man Heike sucht, muß man
nur nach Alexandra Ausschau halten (und umgekehrt); Holger hat offenbar
seine Leidenschaft für High-Tech-Kram behalten (nur rannte er nicht, wie
auf der Segeltour, mit einer Video- sondern mit einer Digitalkamera herum,
die aussah wie ein Requisit aus Star Trek) und Daniela kann immer noch
sehr bildhaft erzählen. (Ihr müsst mal die Geschichte mit der offenen
Beinarterie hören.) Wie gesagt: Es verändert sich nur die äußere Hülle, denn
das innere Wesen bleibt sich treu. (... was sind wir heute wieder philosophisch)

Sollte ich das Treffen mit einem Satz zusammenfassen, würde er wohl so
lauten: Das Essen war lecker, die Getränke reichlich, die Gespräche lustig und
der Abend gelungen. Und es war schade, um jeden, der nicht kommen konnte
oder wollte. Ihr habt was verpasst!

Die Vorschläge für eine Wiederholung lagen zwischen 1 und 30 Jahren,
schienen sich dann aber bei 5 einzupendeln. Auch der Austragungsort wurde
schon festgelegt. Laut unserem ehemaligen Schulleiter und Musiklehrer ist
es möglich, ein Klassentreffen in der Schule zu organisieren. Wegen der
Nostalgie. (Allerdings nicht mehr in der Kükenshove. Das Gebäude wurde
nämlich abgerissen.)
Doch egal wo und wann, ich bin dabei. Und Ihr???

Abschließend bleibt noch zu sagen: "Vergesst nicht: Veränderungen sind
bloß äußerlich und die Welt ist ein Dorf."

Jens Pietsch, September 2001


P.S. Alexandra, ich meinte ‚Der Alte' von R.-M. Rilke


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